2020. Auf den Schwingen des Adlers
2020-08-08

Ein Kamm, ein Weg durch die Lechtaler Alpen
Wo Steinadler die Lüfte verwalten
Das Gefühl zu schweben, für alle Zeiten
Das ist Leben, das sind Weiten

3.000 Höhenmeter. 40 Kilometer. 22 Stunden unterwegs. Vier Tage. Gefühlt eine Ewigkeit. Die Berge versprühen ihre Magie von dem Augenblick an, wo wir Ihre Silhouette im frühen Morgenlicht das erste Mal erblicken. Da ahnen wir noch nicht einmal, was für zauberhafte Tage, welch traumhafte Kulisse, abwechslungsreiche Wege, Steige, Scharten, Pfade, seilversicherten Passagen, steile Schrofen und sanfte Almmatten uns erwarten. Vielleicht ist es genau diese Unwissenheit, die dieses tiefe Gefühl der Dankbarkeit auslöst, wenn man den konzentrierten Blick vom Weg hebt, um die Landschaft, tief in sich aufzunehmen. Spread your Wings and fly away. Wir sind auf dem Adlerweg. Dem Lechtaler Höhenweg. Dem E4 Alpin.

Wir sind mittendrin in einer wilden Bergwelt, die uns tief berührt, uns tief durchatmen lässt. Frei! Es ist eine Traumtour. Menschen begegnen wir nur wenigen unterwegs. Dafür ist Wasser unser ständiger Begleiter. Es rauscht, tobt, fällt, stürzt, plätschert, gurgelt sanft, kräuselt sich an der Oberfläche oder bietet sich im genau richtigen Augenblick zur Erfrischung an. Als Bach, Wasserfall, See oder Brunnen. Immer wieder lädt es verlockend zur Rast ein. Schuhe weg, Socken aus. Hinein. Aaaah! Herrlich erfrischend ist das. So einfach geht Wohlfühlen. Ankommen. Im Berg. Bei sich. Das Wasser erfrischt nicht nur Körper und Geist, es rinnt auch - wann immer uns danach ist - erfrischend durch die Kehlen, kühlt die Haut und den Kopf. Zu leicht wäre es, die Zeit zu vergessen. I'm here. My mind is here. Wir saugen die Augenblicke in uns auf. Nehmen sie mit auf den nächsten Wegabschnitt, dem nächsten Innehalten. Freuen. Staunen. Luft holen. Weitergehen. Ankommen. Ruhen. Es ist ein vertrauter Rhythmus.

Der Startpunkt unserer Berggefühl-Tage ist Zams. Kurzfristig haben wir den Aufstieg von der Lechtaler Seite auf die Stanzertal Seite verlegt. Die letzten Tage hatte es heftig geregnet, in den Höhen geschneit. Keine guten Voraussetzungen, um in eine anspruchsvolle Tour mit seilversicherten Scharten einzusteigen. So wählen wir den Aufstieg über das Zamser Loch. Seltsam vertraut ist dieser Weg, obwohl erst einmal gegangen – damals 2015 als Abstieg von der Memminger Hütte. Die Erinnerungen an den E5 sind so wach, so tief verwurzelt; das Glück, das wir auf diesem Weg über die Alpen ergehen durften, ist geradezu wieder greifbar. Kurz nach ‚Wolfis Speckhütte‘ trennen sich die Wege. 800 leichte Höhenmeter liegen bereits hinter uns. Der klassische E5 biegt zur Memminger Hütte ab, unser Weg führt hinauf zum Württemberger Haus. Das erste Fußbad, die erste Jause mit Käse, Saucisson und Paprika, das erste in den Himmel schauen. Berggefühl pur. Weiter geht der Weg über weiche Almmatten, flankiert links vom rauschenden Gewässer, rechts von lichtgrauen, sonnenhellen, steilen Felswänden. Weit oben thront das Württemberger Haus (2.220m) einladend auf einem Vorsprung. Genau darunter weist ein Wasserfall die Richtung. Noch einmal trennen uns fast 800 Höhenmeter vom Ziel. Doch pünktlich zu Kaffee und Schokokirschkuchen mit Sahne sind wir auf der Hütte, lassen wir uns auf der Terrasse nieder, barfuß, tief zufrieden, hier zu sein und mit einer grandiosen Aussicht vis-à-vis auf die Tiroler Gletscherwelt. Corona hat auch in den Bergen seine Spuren hinterlassen. Die Alpenhütten sind nur zur Hälfte belegt und so ist zwar Betrieb, doch dieser hält sich in angenehmen Grenzen. Die Matratzenlager sind durch Holzwände in kleine Séparée getrennt, was wir durchaus als angenehm empfinden. Ein bisschen mehr Privatsphäre. Die Nacht beginnt nach einer heißen Maultaschensuppe recht früh. Die Berge gehören jetzt den Steinböcken wieder ganz alleine. Sie stellen sich in Pose und genießen es sichtlich, ihr Wohnzimmer wieder ganz für sich zu haben. Wir krabbeln schon gegen 21 Uhr in die mitgebrachten Schlafsäcke, denn Wolldecken gibt es in Coronazeiten keine. Morgen wartet eine lange Tour und die Bitterscharte, der wir heute noch aus dem Weg gegangen sind.

Um kurz vor 8 Uhr geht’s los. Die Beine haben den langen Aufstieg von gestern locker weggesteckt. Die ersten 300 Höhenmeter liegen im Schatten. Sonnig begrüßt uns dagegen die Bitterscharte auf 2.550m. Bitter wie der Name schon sagt, geht es auf der anderen Seite schattig und vertikal am Seil hinab. Konzentration ist hier gefragt. Es war goldrichtig, diesen Weg nicht am Vortrag aufzusteigen, denn vereinzelt sehen wir noch die Schneereste. Nach der seilversicherten Passage, bewältigen wir ein steiles Geröllfeld, dann hat uns die Erde wieder. Am Bittersee holen wir Luft, blicken nach oben. Es ist faszinierend – von hier fällt es schwer den Weg durch diese schroffen Felsen zu entdecken, den wir gerade gemeistert haben.

Zur Erholung führt ein schmaler Steig durch eine malerische Kulisse, hinab bis auf 1900m. Wieder erliegen wir der Versuchung, uns an dem Gebirgsbach niederzulassen. Wieder ziehen wir Bergschuhe und Socken aus, tauchen bis in die Knie in das glasklare, kalte Wasser ein. Wasser hat so viele Töne – eine ganz eigene Sprache. Musik. Wir sind alleine in diesem einsamen Rund von Felsen, das uns umgibt. Die Zeit verrinnt beinahe noch schneller als der Gebirgsbach ins Tal schießt. Nur widerspenstig trennen wir uns von diesem Platz, doch wir wissen, es liegt nicht nur ein ordentliches Stück Weg vor uns, sondern die nächsten Highlights.

Der Weg ist jetzt sanfter und führt über satte, wunderschöne Wiesenböden, an einer Almhütte vorbei hinauf zum türkisgrünen Gufelsee. Würden wir nicht jetzt hier stehen und das mit eigenen Augen sehen, müsste man glauben, es ist eine viel zu kitschig retuschierte Postkarte, die uns jemand vorhält. Und weil es so schön ist, tauchen wir auch hier kurz ein ins Nass und erfrischen uns für den Aufstieg zum Gufelseejoch (2375m) und für die letzte Etappe zur Hanauer Hütte. So steil wie es vom See hinauf geht, geht es auf der anderen Seite hinunter. Dieses schottrige, unbefestigte Hinab verlangt noch einmal ganze Konzentration. Auf dem Joch foppt uns ein Schild, das noch 2h bis zur Hütte angibt. Tatsächlich sind es nur 45 Minuten. Das reicht auch. Mit all den wunderschönen Pausen kommen wir nach 7 ½ Stunden auf der Hütte an und heute sind wir geschafft. Es ist dieses wohlige Gefühl von körperlicher Anstrengung, ja auch ein bisschen Erschöpfung, als Zeuge von dem, was wir in den letzten Stunden ergehen und erleben durften. Auch hier auf der Hanauer Hütte (1922m) lädt die Terrasse ein. Auf den Kuchen verzichten wir, greifen direkt nach der Karte und bestellen Spaghetti Bolognese. Was ein Tag! Diese Lechtaler Alpen gehen direkt ins Herz. Eine fantastische, abwechslungsreiche Landschaft, mit allem was das Berggefühl pulsieren lässt.

Die Dremelspitze kann auf zwei Seiten umgangen werden. Westlich ist der einfachere Weg über den klassischen E4 Alpin. Der Weg über die östliche Dremelschafte (2470m) ist schwarz markiert. Der Hüttenwirt empfiehlt uns diese anspruchsvollere Variante zu wählen, um unser Ziel am dritten Tag – die Steinsee Hütte zu erreichen. 3 ½ Stunden sind angegeben, um über viel Geröll hinauf zur Scharte und auf der anderen Seite wieder steil und ausgesetzt hinab zum See zu gelangen. Der Anstieg zur Scharte hat es in sich. Es gilt, eine Schotterpiste zu bezwingen, die mit jedem Höhenmeter steiler wird. Ohne Stöcke geht hier gar nichts. Wir sind hochkonzentriert. Trittsicherheit ist ein Must Have! Es erinnert an steile, glatte Eispassagen auf der Monterosa Runde. Wir reden kein Wort. Am Ende des heiklen Steigs gibt es einen kleinen Felsvorsprung. Gerade groß genug, um uns beiden für eine kurze Rast Halt zu bieten. Vorsichtig packen wir die Stöcke in den Rucksack. Jetzt darf nichts runterfallen – sonst war es das. Als alles sicher verstaut ist, geht es ans Drahtseil und an diesem entlang hinauf zur Scharte. Das macht Spaß und ist bei Weitem nicht so ausgesetzt wie die Bitterscharte vom Vortag. Wir kommen oben an. Eine neue Bergkette begrüßt uns. Eine Arena aus formschönen, senkrecht aufgestellten Felsen, die als Geröll zum Wiesengrund auslaufen. Der Steig schlängelt sich in schmalen Serpentinen, steil und ausgesetzt hinab. Kurz Luft holen, Kraft tanken, Gedanken sammeln und ab geht’s. Schritt für Schritt.

Wir wissen, dass uns ein See erwartet. Was wir aber nicht ahnen, in welch einmaliger Bergkulisse dieser See liegt. Es ist zu schön, um wahr zu sein! Ist es aber. Und das Beste: See und Berge gehören uns ganz alleine. Fast. In unmittelbarer Ufernähe grast eine Herde feinster Haflinger und Norweger, die hier oben Kraft tanken für die Zuchtarbeit, die sie im späten Sommer im Tal erwartet. Wir schmeißen unsere Rucksäcke ins Gras, ziehen wieder einmal Schuhe und Socken aus und umrunden barfuß den See,besuchen die Stutentiere mit ihren jungen Fohlen, die zum Teil noch mit der Koordination ihrer vier Beine zu kämpfen haben. Ein Schauspiel und wir genießen es, denn wir haben alle Zeit der Welt. Es ist erst 13 Uhr. Die Hütte ist nur eine halbe Stunde entfernt. Was also sollte uns von hier weglocken?!

Satt sehen an dieser Landschaft geht nicht. Doch wir nehmen den Augenblick tief in uns auf. Sind hier. Jetzt. Dankbar, voll Freude, dass wir so traumhafte Bergtage erleben dürfen. Bevor wir endgültig auf Müßiggang umschalten, wagen wir es - tauchen in den See. Kurz. Brrrr. Der See ist kalt, eiskalt. So verführerisch er aussieht, so wenig einladend ist er, wenn man mal drin ist. Die wenigen Sekunden reichen aus. Erfrischt geht es in die Horizontale. Carpe Diem. Der Himmel zaubert ein Wolkenkino. Ein Pferd bewegt sich am Ufer. Der Wind streicht über den See, kräuselt das Wasser. Irgendwo in einer Felswand jauchzt ein Kletterer, dann ist wieder Stille. So vergeht der Nachmittag. Mit Sein. Im Hier und Jetzt. Das tut gut. Nur zögerlich verabschieden wir uns gegen halb fünf von dieser friedlichen Oase und steigen die letzten Meter hinab zur Steinsee Hütte (2061m). Wieder löschen wir den ersten Durst mit einem ‚Johann‘ auf der Terrasse. Beziehen ein lauschiges 2er Abteil im Matratzenlager ‚Spielbergturm‘, und sichern uns den schönsten Hüttenplatz mit Panoramafenster und Bergblick. Kässpätzle und ‚Karabiner Rot‘ verleihen dem erfüllten Tag ein würdiges Finish. Heute geht es erst spät ins Bett. Morgen wartet der Abstieg…

Wie die letzten Tage ist auch heute alles von großer Ruhe geprägt. Keine Eile. Keine Hektik. Wir genießen jeden Schritt, jeden Atemzug. Selbst der Abstieg ist ein Genuss. Der Weg wird anfangs flankiert durch Latschenkiefer, ein Gebirgsbach ist auch heute geräuschvollunser Begleiter. Mit jedem Meter, den wir an Höhe verlieren, wird die Landschaft lieblicher. Blumenreiche Märchenwiesen lösen die Felslandschaft ab. Der Weg wird breiter. Menschen kommen uns entgegen. Eine letzte Rast an einem Brunnen. Dann nochmal kurz auf die Zähne beißen. Die letzten 1 ½ Stunden des Abstiegs – immerhin 1300HM – sind zäh. Der Weg ist staubig, die Hitze drückt und die klare Luft ist Teer geschwängert. Wir verdrängen diesen Teil ganz schnell wieder als wir in Zams mittags eintreffen. Schlemmen ein Riesenschnitzel mit Pommes und Salat und mit Mangoeis in der Hand nehmen wir den letzten Kilometer zurück zum Auto in Angriff. Auch da wartet noch einmal ein kühler Brunnen mit Erfrischung auf uns. Wie könnte es anders sein – auf diesem Traumweg durch die Lechtaler Alpen, der es auf jedem Schritt und in jedem Augenblick gut mit uns gemeint hat. Ein großer Berghunger ist gestillt und gleichzeitig die Sehnsucht nach dem erneuten Aufbrechen geweckt.

Berggefühl ist back!

Nachtrag: Corona hat auch uns - wie so vielen einen Strich durch die Tourenplanung gemacht... umso mehr haben wir die Hoffnung, dass es in 2021 wieder hoch hinaus geht.