2018. 3x Gratwanderung im Wallis. TEIL 3
2018-09-04

Tag 3. Auf Eis und Gletscher haben wir heute null, Komma, null Lust! Steigeisen und Eispickel bleiben somit in der Hütte, als wir am frühen Morgen losziehen. Dafür ist etwas anderes in unserem Rucksack: die feinsohligen Sport-Kletterschuhe. Gegenüber den Batura Bergstiefel, kommen sie leichtfüßig wie Ballerinas daher, sind aber nicht so bequem. Ganz schön eng!

Andreas hat einen exponierten Grat ausfindig gemacht, der uns auf den 3141m hohen Col du Pigne führen wird. Keine Schneefeld Überquerung heute, dafür hat er beim Schwierigkeitsgrad gleich ordentlich eine Schippe draufgelegt. Exponierte Felskletterei im III bis IV Grad. Daher auch die Kletterschuhe. Denn Bergschuhe sind in luftiger Höhe auf kleinen Tritten nicht präzise genug zum Antreten. Am Grateinstieg angekommen, verschwinden also die dicken Dinger im Rucksack. Die dicken Socken auch. Barfüßig geht es in die sau engen Kletterschuhe. Schon bei den ersten Schritten schmerzen die Zehen. Wie soll das über mehrere Stunden gut gehen?! Augen zu und durch.

Wieder sind wir am kurzen Seil angebunden. Das Herz schlägt mindestens so wild, wie dieser Grat vor uns aussieht. Ganz schön luftig ist es hier oben. Au Backe. Für Bedenken, die sich breit machen wollen, bleibt keine Zeit. Andy klettert vor und wir steigen nach. Er braucht kaum Griffe, wir schon! Wir sind schließlich weder Hochseilakrobaten noch Slackline-Profis. Und so kommen wir schön langsam und sicher voran. Der Körper ist in Bewegung. Die Luft schmeckt herrlich frisch. Die Finger greifen den kühlen Fels. Die Füße reiben sich an den kleinen spitzigen Tritten. Die Morgensonne geht auf und wärmt den Rücken. Und der Kopf hat keine Zeit, sich über den Abgrund links und rechts Gedanken zu machen.

Dass die Füße in den engen Kletterschuhen noch immer schmerzen, merken wir nur dann, wenn wir mal stehen bleiben müssen, um eine nach der anderen sicher eine etwas schwierigere Kletterstelle zu passieren. Hochkonzentriert suchen wir Griffe und schmale Leisten, die der Fußspitze Halt bieten und tasten uns vorsichtig über den schmalen Grat. Das Adrenalin flutet jeder Körperzelle. Irgendwann ist der Fels so schmal und es ist links und rechts so steil abfallend, da hilft nur noch eins: rittlings über den Fels. Sicher ist sicher. Mit Andreas Balancierkünsten können wir – zumindest heute – noch nicht mithalten.

Ein Mini-Gipfelkreuz markiert den schmalen Pic de Pigne und während wir, gut gesichert eine kleine Pause einlegen, sucht Andreas den weiteren Weg. Alle drei Varianten, die sich uns bieten sehen nicht wirklich verlockend aus. Die schattige, etwas feuchte linke Flanke scheint die beste Variante zu sein. Andreas steig vor und verschwindet schnell aus unserem Blickfeld. Als sein Ruf ertönt – nachkommen, geht’s los. Nun, diese Passage ist deutlich steiler und fordert volle Konzentration für die glatte Überquerung. Die Hände suchen den Fels nach einer Kante, einer noch so kleinen Ritze ab, die Halt verspricht. Die Kletterschuhe brauchen Druck, um mit Reibung genügend Halt auf der Felsplatte zu finden. Es geht! Nach der Traverse ist Andreas wieder in Sicht. Er nützt die Position, um ein Foto zu schießen. Die Kamera vor Augen – bitte recht freundlich lächeln :)

Nach der Traverse müssen wir abseilen. Marie seilt als Erste die 8 Meter nach unter und sucht eine Landestelle über einer Felsnase. Andreas seilt Gitta parallel ab. Das ist filmreif! Viel Platz ist nicht da für uns drei! Mulmig bis sehr mulmig ist die Gefühlslage bis wir wieder schmalen Grat unter den Füßen haben. Dann lässt sich Andreas sportlich ab und löst mit versierter Hand alle Knoten, die es gebraucht hat, um uns zu sichern. Wahnsinn! Geschafft! Die letzten Meter sind geradezu ein Genuss. Die Überquerung des Col du Pigne liegt hinter uns. Das Gefühl? Unbeschreiblich! Ja, das Mentale ist der stärkste Muskel. Ihn mit seinen Phantasien „was wäre wenn…?“ bei dieser Überschreitung im Zaum zu halten, war die eigentliche Leistung. Die Belohnung ist die Gewissheit, man kann mehr, als man denkt und ein unbeschreibliches Berggefühl! Eines für immer.

Nach kurzer Heldenpause auf 3000m ziehen wir die Kletterschuhe aus und freuen uns auf die bequemen Bergschuhe Es geht zum nahe gelegenen Moiry Klettergarten. Eine gewaltige Felswand - 200m östlich der Hütte. Da testen wir das neu gewonnene Selbstbewusstsein an ein paar Routen im IV und V Grad und wärmen uns in der Mittagssonne auf, bevor wir tief zufrieden am frühen Nachmittag zur Hütte einkehren. Darauf heute ein Radler und die doppelte Portion Rösti mit Spiegelei. Andreas verabschiedet sich – er steigt ab." Servus, machts guat bis zum nächsten Abenteuer". Gemeinsame Pläne haben wir schon geschmiedet, aber jetzt sind wir in diesem Augenblick.

Wir sind in den Bergen. Die Bergen sind in uns. Und um uns herum.


Wir bleiben noch eine Nacht und lassen die letzten aufregenden Tage voll mit spannenden Herausforderungen, neuen Erfahrungen und Grenzgängen dankbar auf uns wirken. Es muss nicht der höchste Berg Europas sein, um über sich selbst herauszuwachsen.