2019. Hoch-Genuss der Exoten
2019-03-11

Die Schiebenwischer mühen sich redlich und werden doch der Wassermasse, die vom Himmel rauscht, nur schwer Herr. Mit gezügeltem Tempo – Schweizer Autobahnen und dem Wetter angemessen – fahren wir auf bekannter Strecke, vorbei am aufgewühlten Genfersee ins Wallis.

Wieder einmal lockt uns diese Region mit ihrer unendlichen Pracht einer hochalpinen Bergwelt. Es wird auch Zeit! Zu lange waren wir nicht hier. Ja – überhaupt nicht in den Bergen. Das Leben mit seinen bunten Facetten hat sich uns immer wieder mal in den Weg gestellt. Umso größer ist die Freude jetzt, dass wir unterwegs sind. Kurz nach Martigny biegen wir von der Rhone-Autobahn A9 in Richtung Lourtier ab. Die schmale Bergstraße windet sich sanft hinauf, vorbei an kleinen Schweizer Bergdörfern. Die wenigen Häuser links und rechts sind von grauer Tristesse gezeichnet, die auf einen harten Winter schließen lässt. Unser Blick gilt aber konzentriert der Straße. Die Regentropfen haben sich in wild tanzende Schneeflocken verwandelt und in weniger als einer halben Stunde ist alles Grau einem neuen Weiß gewichen und die Bergstraße ist eine Rutschbahn. Dennoch sind wir pünktlich nach 6 Stunden Fahrt am Parkplatz Barmasse. Dort erwartet uns Andreas. Im Windfang seines Busles packen wir nach einem sehr herzlichen Hallo unsere sieben Sachen und uns in ein wasser, - und winddichtes Hardshell-Outfit, schnallen die Schneeschuhe an und stapfen vergnügt und froh hier zu sein los.

840 Höhenmeter, 5km und knapp 3 Stunden später kommen wir auf unserem Domizil der nächsten Tage, der Cabane Brunet (2104m) an. Wildes Schneetreiben begleitet unseren Aufstieg. Die Kapuzen der Hardshelljacke haben wir zum Schutz tief ins Gesicht gezogen. Das geht ja gleich richtig gut los. Die Hütte kommt erst in Sicht, als wir beinahe darüber stolpern. Mehr bekommen wir bei der Ankunft nicht zu sehen. Keine Berge weit und breit, obwohl es noch früher Nachmittag ist. Wolken und Schneetreiben verschlucken die Landschaft, verwandeln alles in ein anonymes Nichts. Sollen sich Schnee und Wind ruhig heute austoben. Das interessiert uns jetzt alles nicht. Wir sind einfach im Glück, hier zu sein. Hauptsache morgen scheint die Sonne!

Die Cabane Brunet nimmt uns freundlich auf. Es ist ein kleines und charmantes Bergdomizil mit nur 50 Schlafplätzen und einem Hüttenwirt, der gelernter Koch ist. Sehr zu unserer Freude. Jeden der folgenden Abende wird er uns ein viergängiges Menü auftischen und uns nach Strich und Faden verwöhnen. Dabei ist er die Ruhe in Person. Die Hektik, die wir von großen Hütten mit Übernachtungskapazitäten von 100 und mehr Plätzen kennen, ist hier Fehlanzeige. Eine Ruhe-Oase am Berg; vielleicht auch, weil neben uns nur noch eine Schüler-Gruppe von 17 Skitourengehern da ist.

Auch ein Original-Käsefondue dürfen wir hier oben genießen. Das schmeckt so lecker, dass wir erst aufhören, unser Brot in den brodelnden Käse zu tunken, als der Topf bis in den letzten Winkel hinein ausgeschleckt ist und wir pappsatt sind. Darauf einen Genepi! Die lokale Schnapps-Spezialität. Morgens bekommen wir nach dem Frühstück einen Marschtee mit auf den Weg und nachmittags wartet eine feine Tarte aux Pommes auf uns. Es fehlt uns an nichts. Soweit zum Hochgenuss Teil 1 unserer Tour. Schließlich sind wir ja nicht nur zum Schlemmen ins Wallis gefahren! Obwohl…

Schneefall und Wind haben sich in der Nacht tatsächlich vom Acker gemacht. Wir befinden uns im Gebiet des Grand Combin (4.314m). Eine fantastische, abwechslungsreiche Bergarena von 3000er Gipfeln umgeben, frisch eingeschneit, auf die die Märzsonne in bester Laune aus einem wolkenlosen Himmel herunterstrahlt, verspricht Hochgenuss der alpinen Art. Es ist ein Traum. Wir Glückskinder. Die Neuschneedecke beträgt geschmeidige 15 Zentimeter. Es herrscht so kurz nach Neuschnee Lawinenstufe 3 (= erhebliche Gefahr. Lawinenauslösung ist bereits bei geringer Zusatzbelastung, vor allem an Steilhängen über 35° möglich.) Doch das Gelände ist so weitläufig und abwechslungsreich, dass es genug zu erobern gibt. Um extreme Steilhänge machen wir einen großen Bogen und gehen damit der Gefahr so weit wie möglich aus dem Weg. Etwas weniger gefährliche Abschnitte begehen wir einzeln. Außerdem haben wir ja den Andreas dabei! Mit seiner Erfahrung, viel Umsicht, Vorsicht, vorausgehend und vorausschauend zieht er uns eine sichere Spur in das große, weite Weiß. Und eh klar: wir haben selbstverständlich eine LVS-Ausrüstung dabei. Schaufel und Sonde sind im Rucksack. Der Piepser ist am Körper und bevor wir losmarschieren wird getestet, ob er auch eingeschaltet ist.

Zwei Tage lang durchpflügen wir von früh morgens bis zum Nachmittag diese herrliche Landschaft. Wir haben einen Weg, aber kein fixes Ziel vor Augen. Müssen keinen Gipfel stürmen. Das pure am Berg sein, im Berg sein ist unser einziges Ziel. Sich satt sehen an dieser grandiosen Landschaft. Tief Luft holen. Den eigenen Atem hören. Den Herzschlag spüren. Das unbeschreibliche Gefühl genießen, wenn der Schneeschuh die unberührte Schneedecke durchbricht und sanft, tief in den feinen Pulverschnee eintaucht. Wir hören den Wind, wie er an unseren Kapuzen zerrt. Wir staunen über Schneekristalle, wie sie millionenfach in der Sonne funkeln. Und wir verfolgen, wie der Wind an Tag zwei den feinen Schneestaub über die Schneedecke spielerisch vor sich hertreibt.

In Gedanken versunken erklimmen wir gleichzeitig gedankenlos Höhenmeter um Höhenmeter – einzig konzentriert auf den nächsten Schritt. Wir halten an, staunen über die Einsamkeit hier am Berg, wärmen uns mit heißem Tee und genießen die Stille und das Beisammensein. Keine Menschenseele außer uns. Wenn wir etwas risikoreichere Passagen mit ausreichend Abstand (40-50 Meter) traversieren, ist jede für sich eine kurze Ewigkeit ganz allein am Berg und in dieser Landschaft. Mit dem Wissen, dass die anderen gleich wiederauftauchen werden, ist auch das ein erhebendes und doch manchmal auch beklemmendes Gefühl. Stunden vergehen wie im Flug. Wir haben keine Eile. Knapp sieben Stunden toben wir jeden Tag durch dieses unberührte Weiß. Machen jeden Tag zwischen 800 und 1.000 Höhenmeter und legen so an die 10 Kilometer zurück. Es ist ein herrliches Unterwegssein, Umherschweifen in dieser hochalpinen Landschaft, in der eigenen Gedankenwelt. Wir kehren um und entdecken denselben Weg neu. Der Perspektivenwechsel lässt Anderes entdecken. Und obwohl es bergab schneller geht, werden die Schritte langsamer. Wir wollen das Ende der Tour hinauszögern. Wunderbar gelingt das in einer großen Pause. Und als wenn diese Bergwelt nicht schon Hochgenuss genug wäre, packt Andreas aus einem Rucksack einen Gaskocher aus und serviert wenige Minuten später einen perfekten Cappuccino. Aus reinem Schneewasser! Der Kerl ist einfach unglaublich. Wir halten unsere Gesichter in die Sonne und genießen beim Anblick des vergletscherten Petit Combin (3.663m) Berggefühl pur!

Als Schneeschuhgeher sind wir in diesen Höhen Exoten. Daran haben wir uns längst gewöhnt. Über 2500 Meter gehört das Gelände im Winter normalerweise den Skitourengehern. Sie schleichen auf ihren Fellen hinauf, um sich dann in eine rauschende Abfahrt durch unberührtes Gelände zu stürzen. Ihre Blicke sind mal verständnislos, mal bewundernd. Es scheint ihnen ein Rätsel zu sein, wie man zum puren Selbstzweck des Unterwegsseins sich kräfteraubend durch den tiefen Schnee kämpft – ohne Aussicht auf den Rausch von Tiefschneeschwüngen. Wir lieben diese Art der Fortbewegung. Die abwechslungsreiche Monotonie der tiefverschneiten Berge strahlt eine ganz besondere Magie aus. Schon nach der ersten Tour merken wir, wie das Unterwegssein seine wundersame Wirkung verbreitet. Die Lunge plustert sich auf, jede Körperzelle tankt Energie. Die Kraft kommt zurück. Das ist Entschleunigung, Wellness, Sinnesrauschen und Erholung – all inclusive. Nicht selten haben wir auch Steigeisen und Eispickel dabei, um die letzten Meter eines steilen Anstiegs auf einen Gipfel zu meistern. Nicht so hier in der Arena der Cabane Brunet. Hier geht es einzig um den Hochgenuss. Am Berg. Im Schnee. Auf der Hütte.

„Mit Anstrengung und Kosten verbunden, sind diese Momente immer wieder ein Geschenk der Natur, das wir mit viel Zurückhaltung und Ruhe annehmen können.“ schreibt uns Andreas nach unserer Rückkehr. Wir recht er hat und wie privilegiert wir sind, dass wir dieses Geschenk annehmen können. Dafür sind wir dankbar.

Wer jetzt Lust auf Hochgenuss bekommen hat, hier noch der Link zur Hütte. Es empfiehlt sich zu reservieren, da es nur wenige Schlafplätze gibt. Matratzen und Decken sind übrigens sauwarm; ein Hüttenschlafsack ist dennoch Pflicht. Es gibt keine Duschen, dafür extra kaltes Wasser zum Waschen. Und noch ein Tipp: besser nicht der Versuchung erliegen und die langhaarige Hauskatze streicheln… das könnte böse enden.

Ansonsten – viel Spaß im Wallis, das ganz sicher auch im Sommer eine Reise wert ist.