2019. Abenteuer in der Mont Blanc Vertikalen
2019-08-30
Die Finger tasten nervös den Granit nach einer Unebenheit ab, die griffig genug scheint, um wenigstens zwei Fingerkuppen etwas Halt zu bieten. Die Finger der anderen Hand saugen sich an einem kleinen Felsriss fest; wollen diesen unter gar keinen Umständen loslassen. Eine kleine Etage tiefer pressen sich die Fußspitzen der Kletterschuhe gegen die Felswand, um nur durch den Druck des eigenen Körpergewichts und die dadurch entstehende Reibung ein Abrutschen zu verhindern. Es gelingt; der Gummi der Sohle und die Unebenheiten der Felsstruktur bilden eine Symbiose, sind wie füreinander geschaffen, greifen wie Zahnräder ineinander, übertragen die notwendige Kraft, die Halt bietet.
Doch der Schein trügt. Diese Verbindung ist nur für einen kurzen,
perfekten Augenblick geschaffen. Wir wissen um diese Zerbrechlichkeit.
In der Hoffnung, dass der nächste Zug gelingt, löst der rechte Fuß als
erstes diese fragile Verbindung wieder, gibt die Kraft frei. Das ganze Körpergewicht lagert nun auf dem linken Zeh.
Hände und Finger dienen nur der Balance. Der Körper schiebt sich
Zentimeter für Zentimeter an der Felswand entlang nach rechts. Dort
lockt ein Vorsprung – 5cm tief und 10cm breit und
verspricht sicheren Stand. Die Fingerkuppen der rechten Hand saugen sich
fest, die linke Hand löst sich, folgt dem rechten Bein. Wie in
Zeitluppe bewegt sich der ganze Körper nach rechts, die Fußspitze findet
als erste wieder neuen Halt, lässt sich auf eine neue flüchtige
Verbindung ein und der restliche Körper kommt nach. Stand! Jetzt hält
der Geist kurz inne, staunt über den Zug und ist gleichzeitig
erleichtert über den sicheren Halt. Durchatmen. Breaaathhh. Kingt wie eine Ewigkeit, passiert in wenigen Sekunden.
"Trois Surplomb" heißt diese Kletter-Route. Der Name ist Programm: drei Überhängen müssen wir meistern!
Wir sind auf fast 3.000m auf der Schweizer Seite des Mont Blanc Massivs und machen unsere erste Mehrseillängentour an diesem fantastischen Gestein. „Perfekter, kompakter Granit!“ tituliert Andreas den Felsen, der uns als versierter und kameradschaftlicher Bergführer wieder einmal neue Wege in den westlichen Alpen ermöglicht. Nicht in Eis und Schnee, nicht auf die hohen Gipfel… Lange schon haben wir uns gewünscht, dem Berg ganz nah zu kommen.
Was wir dieses Mal erleben, geht weit über jene Vorstellung hinaus, die
wir uns vom Klettern in der Vertikalen gemacht haben. Das hier ist nicht
die Kletterhalle, auch nicht das Allgäu. Hinter uns mäandert der
Gletscher Orny, spaltenreich und von der sommerlichen Hitze gezeichnet
talwärts. Die steilen Felsflanken der Aiguille du Tour (3.540m)
verfolgen stoisch seinen Weg. Auf der anderen Seite des Tals – in weiter
Ferne steht selbstbewusst und dominant der Grand Combin (4.314m) – in
seiner Form und Pracht beinahe so verlockend wie der Mont Blanc. Aber um
diese beeindruckende Kulisse zu bestaunen, bleibt kaum Zeit. Aller
Fokus geht auf die Felswand vor unseren Nasenspitzen, auf den nächsten
Zug. Auch wenn wir uns ganz sicher am Seil und an der ‚Magic Plate‘ von Andreas wissen, bleibt die Exponiertheit. Die beeindruckende Höhe dieses Felsens und die Rauheit der alpinen Landschaft tief unter uns und nimmt alle unsere Sinne gefangen.
Sicheren Boden zu verlassen ist gegen jeden menschlichen Verstand. Und doch tun wir es. Warum? Es ist vielleicht die reinste Form am Berg zu sein. Man fühlt ihn, spürt ihn, riecht ihn. Der Berg ist in uns und wir in ihm. Augenblicke sind selten am Berg intensiver gelebt. Es ist dieser ungeteilte Fokus auf das Jetzt, der diesen Weg in der Vertikalen so wertvoll macht. Wieder einmal lehrt uns der Berg – wir können mehr, als wir uns zutrauen. Als wir nach fünf Seillängen am Gipfel ankommen, hängen wir uns in unsere Sicherung und jetzt ist die Zeit gekommen, diese ursprüngliche, unzivilisierte, Millionen Jahre alte, von Wind und Wasser geprägte und gefräste Landschaft in sich aufzunehmen. Ja, wir können noch besser verstehen, warum Menschen sich in diese Vertikale wagen. Und mit dem Erlebten unserer Klettertage am Mont Blanc Massiv steigt unsere Bewunderung für all die großen Bergsteiger und Kletterer, die sich in diesem nicht für Menschen geschaffenen Gelände an der Grenze des Möglichen bewegen. Erst recht, wenn Kälte, Schnee und Eis dazukommen, wenn es im Free Solo an der glatten Wand hoch geht. Und auch der Respekt und Dank für alle Bergführer (für unseren Andreas ganz besonders), die nicht nur für sich, sondern auch für Neugierige und Einsteiger wie uns, Verantwortung übernehmen und den Weg in die Vertikale ermöglichen, steigt.
Drei Tage lang dürfen wir den Felsen und die Berge so intensiv erleben und in uns aufnehmen. Das geht tief. Gibt neue Kraft, eröffnet neues Denken. Beides werden wir in den Alltag mitnehmen.
Infos rundum zur Tour:
Unser Bergabenteuer hat in Saint-Gervais les Bain in der Nähe von Chamonix begonnen. Dieses Gebiet, der Mont Blanc und sein Massiv ziehen uns immer wieder magisch an. Dem größten Ultra-Trailrunning-Wettkampf der Welt geschuldet – dem UTMB – haben wir etwas außerhalb gewohnt. Wie so oft, wenn man gewohnte Pfade verlässt, entdeckt man Neues und in den oberen Stadtteil von Saint Gervais haben wir uns sofort ‚verliebt‘. Saint-Gervais-les-Bains. Der Ort ist so einladend wie der Name klingt, wenn man ihn laut ausspricht. Einfach bezaubernd und jedem empfohlen, der hier mal vorbeikommt. Unsere ersten Gehversuche in der Vertikalen habe wir im Steinbockgebiet am herrlichen Gneis von Argentière unter der Obhut des Mont Blanc gewagt. Das Dach Europas, das in seiner weißen Pracht, die gegen den blauen Himmel wie ein Juwel strahlt, fasziniert uns mit seiner Schönheit und Hoheit noch immer, lässt unsere Herzen höherschlagen. Wir fühlen uns mit diesem Berg verbunden. An der Wettkampfatmosphäre des UTMB in Chamonix haben wir geschnuppert, schon deshalb, weil wir nach dem ersten Klettertag unsere engen, kleinen Hallenkletterschuhe zum Teufel gewünscht haben und kurzerhand in Chamonix neue – etwas bequemerer gekauft haben. Eine Investition, die sich mehr als bezahlt gemacht hat! Schuhshopping in Chamonix – ganz ehrlich, es gibt Schlimmeres.
Unser eigentliches Vertikal-Abenteuer hat auf der Schweizer Seite des Mont Blanc im Wallis gespielt. Andreas hat die Cabane d’Orny bei Champex-Lac als ‚Basecamp‘ ausgewählt. Er hat freie Hand, weil wir wissen, er sucht immer das Richtige für uns aus. Und so war es auch dieses Mal. Die Hütte bietet fantastische Klettermöglichkeiten, ermöglicht hochalpine Touren und all das in grandioser, rassiger Fels- und Eiskulisse. Die Hütte hat schöne großzügige Lager, ist was das Sanitäre angeht, ‚klassisch hochalpin‘ ausgestattet… die Wellness-Zeit hält sich somit sehr in Grenzen. Umso besser ist dafür das Essen! Alles wird frisch gekocht und das schmeckt man. Très Bon!
Auf die Hütte gelangt man ab einem kostenlosen Parkplatz kurz vor Champex-Lac mit dem Sesselift von La Breya. Er katapultiert von gut 1500 auf knapp 2200 Meter. Dann sind es noch ca. 2.5h feinster Aufstieg zur Hütte. Zwei Drittel sehr gefällig, dafür werden dann die Höhenmeter auf die Cabane d’Orny (2835m) sehr effizient, aber jeder Schritt hinein in diese Welt ist es wert, gegangen zu werden.